Eltern und Tod – Ein Tabu, mit dem Hörschatz bricht.

Ob theoretisch oder viel zu nah: Der Tod beschäftigt uns alle.

Gemäss dem Bundesamt für Statistik betreffen knapp 2 Prozent der Todesfälle jedes Jahr Menschen zwischen 25 und 44 Jahren. Ab dem 40. Altersjahr ist Krebs die häufigste Todesursache. Viele davon lassen kleine Kinder zurück.

Der Verein Hörschatz ermöglicht es-, unheilbar erkrankten Eltern, ihren minderjährigen Kindern ein persönliches Hörbuch zu hinterlassen. So haben sie in der letzten Lebensphase die Möglichkeit, in einer begleiteten Rückschau ihr eigenes, unerwartet verkürztes Leben zu würdigen und gleichzeitig ihren minderjährigen Kindern eine einzigartige, kostbare Erinnerung zu schaffen.

Wir haben uns mit Franziska von Grünigen, einer der beiden Co-Gründerinnen, unterhalten, um mehr über das Projekt und generell über die Einstellung der Menschen, insbesondere Eltern, in der letzten Lebensphase zu erfahren.

Wie und wann sind Sie auf die Idee vom Hörschatz gekommen? Gab es einen Auslöser? Was ist Ihr persönliches Anliegen in diesem Projekt?

Ein Dokumentarfilm über ein vergleichbares Projekt aus Deutschland gab den Ausschlag. Meine Co-Gründerin Gabriela Meissner und ich sahen den Film unabhängig voneinander und hatten denselben Impuls: Dieses Angebot wollen wir in der Schweiz ebenfalls ermöglichen. Per Zufall fanden wir zueinander und verfolgen seither gemeinsam unser Herzensprojekt Hörschatz. Unsere Gründerinnenvision ist, dass der Verein Hörschatz jeder betroffenen Familie, die das wünscht, einen kostenlosen Hörschatz ermöglichen kann. Wir wollen so dazu beitragen, dass Eltern unvergessen bleiben – auch wenn sie zu einem Zeitpunkt sterben, wenn ihre Kinder noch sehr jung sind.

Haben Sie keine Berührungsängste zum Thema Tod?

Viel weniger als früher. Früher hat es mir Angst gemacht, mir über einen möglichen Tod von geliebten Menschen Gedanken zu machen. Gleichzeitig habe ich schon als Kind immer wieder Berechnungen angestellt, in welchem Alter der Tod meiner Eltern für mich wohl verkraftbar wäre. Der Tod war also durchaus ein Thema, ich fühlte mich ihm aber ausgeliefert. Seit ich als Palliativ-Audiobiografin arbeite und durch den Verein Hörschatz immer wieder mit jungen Menschen in Kontakt komme, deren Lebenszeit deutlich begrenzt ist, wird mir immer klarer bewusst, dass der Tod ein Teil des Lebens ist.

Wir wissen alle, dass wir eines Tages sterben. Wieso denken sie, sprechen wir so selten darüber?

Vielleicht ist es ein Versuch, dem Tod durch Totschweigen zu entkommen. Viele wollen weder den Tod noch die Gedanken daran an sich heranlassen, aus Angst, das könnte sie zu sehr belasten. Entsprechend überrumpelt und ohnmächtig fühlen wir uns, wenn das Ende dann plötzlich da ist. Wir machen immer wieder die Erfahrung, dass es ganz viel Klärendes und Versöhnliches mit sich bringt, wenn man sich – auch schon in gesunden Zeiten – mit dem Tod und dem eigenen Sterben auseinandersetzt.

Wie funktioniert Hörschatz? Wann kommen Eltern zu Ihnen? Wann erfahren die Kinder vom Hörschatz? Und wie gelangt die Aufzeichnung schliesslich an Hinterbliebene?

Die Antworten auf diese Fragen sind so individuell, wie die Hörschatz-Mamis und –Papis es auch sind. Manchmal melden sich die Eltern direkt bei uns, manchmal sind es Freundinnen, Familienmitglieder, Pflegepersonal, die den ersten Kontakt aufnehmen. Dabei geht es immer um denselben Wunsch: Für die Kinder eine Erinnerung aufzunehmen, damit die Stimme, die Gedanken, die Lebensgeschichte der Mutter oder des Vaters auch nach deren Tod erhalten bleiben. Einige Eltern melden sich bereits früh, andere erst kurz vor dem Tod. Nachdem wir gemeinsam auf das Leben zurückgeschaut und die Aufnahmen im Kasten haben, produzieren wir daraus ein schön gestaltetes Hörbuch mit vielen Kapiteln und Lieblingsmusik, das wir – sofern die Hörschatz-Eltern das wollen und noch leben – an die Mamas und Papas selber schicken. Einige von ihnen möchten bewusst nicht mehr reinhören, andere setzen sich mit den Kindern zusammen und hören gemeinsam einige Kapitel. Wenn ein Elternteil bereits im Laufe der Produktion verstirbt, händigen wir den Hörschatz an eine Vertrauensperson aus, die sich künftig als Hörschatz-Hüter um dieses kostbare Vermächtnis kümmert.

Gibt es einen Grund, warum Hörschatz sich auf Audio konzentriert? Warum nicht Video? Wäre das nicht noch persönlicher?

Die Stimme ist viel mehr als der Spiegel unserer Seele. Jede Stimme ist einzigartig, genauso wie jeder Mensch. Die Stimme verrät viel über unsere Persönlichkeit, über unsere momentane Stimmung und sie ist das, was Kinder als erstes von ihrer Mutter oder dem Vater mitbekommen – bereits im Mutterbauch. Mit der Stimme erzählen Eltern Geschichten, singen Lieder, lachen. All das wird in einem Hörschatz festgehalten – ohne getrübt zu werden durch das Äussere, das sich durch die fortschreitende Krankheit vielleicht schon etwas verändert hat.

Sie sprechen mit Eltern über ihr Leben, bevor sie sich für immer von ihren Kindern verabschieden. Das stellt man sich unglaublich traurig vor. Gibt es da auch schöne Momente?

Es gibt vor allem schöne Momente, denn bei Hörschatz-Aufnahmen feiern wir das Leben. Väter erinnern sich an das überwältigende Gefühl nach der Geburt ihrer Kinder, Mütter erzählen von lustigen Streichen, die sie als Kinder gemacht haben. Es geht um Familienrituale, tolle Ferien, gemeisterte Hürden, Meilensteine. Nochmals so stark ins eigene Leben eintauchen zu können, ist für die Väter und Mütter oft sinnstiftend, gibt Kraft, macht Freude. Schwierige Sequenzen sind jene Kapitel, die die Eltern direkt ihren Kindern widmen und in denen sie ihnen all das sagen, was ihnen wichtig scheint. Da fliessen off the record oft auch Tränen. Diese Trauer und Verzweiflung rauslassen zu dürfen, ist ein wichtiger Teil des Aufnahmeprozesses. Für den Hörschatz der Kinder schaffen es die Eltern dann aber immer wieder, mit gefasster Stimme positive, bestärkende Worte zu finden.

Nehmen Sie Einfluss auf die Inhalte, die Eltern ihren Kindern bei Hörschatz hinterlassen? Gibt es Regeln, an die Eltern sich halten müssen?

Es ist uns sehr wichtig, dass unsere Hörschätze tatsächlich Schätze sind und nicht zu Bürden werden. Heikel sind deshalb Aufträge der Eltern an die Kinder. Wir haben gute Erfahrungen damit gemacht, wenn Eltern ausschliesslich aus der Vergangenheit und der Gegenwart heraus erzählen und sie nicht etwa Ratschläge geben für eine Situation, die erst in 10 oder 20 Jahren eintreffen wird. Den Kindern hilft es am meisten, wenn sie aus den Erfahrungen der Eltern eigene Schlüsse für sich selbst ziehen können. Sie haben so ein Vorbild im Ohr, nach dem sie sich orientieren oder zu dem sie auch auf Distanz gehen können.

Können Sie in den Gesprächen mit den Eltern Parallelen feststellen? Gibt es gewisse Dinge, die den Eltern in Bezug auf ihre Kinder besonders wichtig sind?

Mich berührt immer wieder zu hören, wieviel die Mütter und Väter ihren Kindern zutrauen. Auch wenn es sie unglaublich schmerzt, ihre Söhne und Töchter nicht weiter begleiten zu dürfen, sind sie doch überzeugt, dass ihre Kinder den eigenen Weg gehen werden – mit allen Umwegen und Herausforderungen, die sich in einem Leben stellen werden. Zu den Wünschen, das Kind möge sich selbst treu bleiben und das Leben mit Lust und Mut in Angriff nehmen, werden bei den Aufnahmen immer wieder die Stärken der Kinder betont. Stärken, die ihnen auf dem Weg ins Erwachsenwerden und darüber hinaus helfen werden, auch wenn Mama oder Papa nicht mehr an ihrer Seite sind.

Wie bringt man Menschen mit wenig Zeit dazu, ihr ganzes Leben zu erzählen?

Manchmal habe ich den Eindruck, während der Hörschatz-Aufnahmen verliere die greifbare Endlichkeit für ein paar Stunden an Gewicht und Bedeutung. Wir tauchen mit einem Köpfler ein ins Leben und schon sind wir mittendrin. Wenn der Redefluss mal nicht automatisch sprudelt, helfen wir mit gezielten Fragen nach, unterstützen, lenken um. Immer wieder hören wir nach den Aufnahmen von Müttern und Vätern, das sei jetzt „richtig lässig“ gewesen. Die belebende Kraft dieses Erzählprozesses spüren oft auch die Familienmitglieder nach den Aufnahmen.

Bei den Gesprächen mit den Eltern können Sie nicht weghören. Das ist bestimmt nicht immer einfach. Woher holen sie sich die Kraft für diese Tätigkeit? Und wie schaffen sie es, die nötige Distanz zu bewahren?

Wenn wir mit unserem Aufnahme-Equipment zu Hörschatz-Familien gehen, sind wir in klarer Mission unterwegs, mit einem Auftrag. Ich vergleiche diese Rolle gerne mit jener der Expeditionsleitung. Das hilft. Und trotzdem berührt das Erzählte und geht tief. So kann es auch vorkommen, dass durch dieses Mitfühlen auch bei uns Audiobiografinnen Tränen fliessen. Meiner Meinung nach ist das nur menschlich. Eine Frau sagte mal, sie empfinde diese Tränen als Wertschätzung für ihre Geschichte. Diese Sichtweise gefällt mir gut. Nach den Aufnahmen tauschen wir Audiobiografinnen uns über unsere Gefühle aus und reflektieren die Erfahrungen. Das Erzählen hilft uns, das Erlebte und Gehörte einzuordnen und in unser eigenes Leben zurückzukehren.

Diesen Beitrag teilen